Briefe an Schönwalde

Max, Christoph und Person drei schreiben an die Bewohnerinnen von Schönwalde I & II.

Die größte Sehnsucht, der größte Wunsch, den ich mit all den Menschen, die hier kennengelernt habe, teile, ist der Wunsch nach Gemeinschaft.

MaxHeimat hoch 3
Max

Liebe Schönwalderinnen und Schönwalder,

mein Name ist Max und einige von euch habe ich in den letzten Wochen hier kennengelernt. Und ich glaube, kennengelernt trifft es ganz gut. Natürlich weiß ich über euch nicht viel. Aber ich weiß um so einige Gefühle und Gedanken, die ihr mir mitgeteilt habt. Von mir selber habe ich weniger erzählt. Vielleicht hole ich das ja jetzt mal nach.

Ich bin 46 Jahre alt, in Hamburg geboren und habe eine 16-jährige Tochter. Mit ihr lebe ich in Berlin und wurschtel mich so durch, wie man so sagt. Also unter Künstlern sagt man das so. Und es stimmt ja auch. Ich kann von meiner Kunst allein nicht leben. Leider. Deshalb suche ich mir immer mal Jobs, die sich nicht ganz furchtbar anfühlen, oder gehe auf Hartz IV. Nie lange, damit ich nicht in die Vermittlungsschleifen komme.

Ich lebe gerne in Berlin. Ich habe mich in diese Stadt verliebt, als ich vor 18 Jahren aus Hamburg dorthin kam. Ich wohne im Osten der Stadt und suchte schnell Freunde, die mir erzählen konnten, wie es dort war, bevor wir ganzen Wessis in die unsanierten Altbauten strömten und uns freuten, wie niedrig die Miete war. Ich habe solche Freunde gefunden, und nachdem sie mir so viel erzählt haben, so viel vermissen und so viel Wandel hinter sich gebracht haben, fühlte ich mich mit den Jahren, die ins Land zogen, irgendwann auch wie ein Ossi. Auch ich vermisse jetzt Dinge, die vor 20 Jahren noch anders waren, billiger meistens. Bunter manchmal. Chaotischer, aber freier. Und vor allem eines: persönlicher.

Und dann kam ich hierher. Ins Ghetto, wie manche mir vorher sagten.

Den Punkt können wir eigentlich gleich abhaken. Wenn Schönwalde II ein Ghetto sein soll, dann haben die Leute, die so was behaupten, wohl noch nie ein echtes Ghetto gesehen. Nein, Schönwalde ist eine Plattenbausiedlung am Rande einer auch nicht grad riesigen Stadt, und wenn man hier ein paar Wochen verbracht hat, merkt man eigentlich, dass es ein Viertel ist wie jedes andere auch. Vielleicht sogar noch etwas ehrlicher und direkter.

Und nach all den Gesprächen und Begegnungen habe ich eines festgestellt. Die größte Sehnsucht, der größte Wunsch, den ich mit all den Menschen, die hier kennengelernt habe, teile, ist der Wunsch nach Gemeinschaft. Nach Menschen, mit denen man zusammenleben kann und die einen genau so nehmen, wie man eben ist. Ohne Respektlosigkeit, ohne Hass und Häme und mit Rücksicht und Anteilnahme.

Früher hätte man vielleicht gesagt: eine Gemeinschaft in Solidarität. Aber irgendwie ist dieses Wort wohl in Vergessenheit geraten. Vielleicht erinnert es an staatliche Entmündigung oder an DDR-Schulunterricht … ich weiß es nicht. Vielleicht ist es auch aus der Mode gekommen, weil die Gesellschaft, in der wir leben und arbeiten, mit so etwas wie Solidarität nicht viel anfangen kann. Vielleicht weil es sich einfach nicht rechnet. Und rechnen muss sich ja immer alles. Aber was, wenn wir alle, die wir hier zusammengekommen sind, dieses Wort mal wieder ernst nehmen? Wenn wir zusammenkommen und miteinander rausbekommen, wie wir gerne zusammen leben wollen. Welche Regeln wir dafür wollen, die für alle gelten sollen und die wir selber bestimmt haben. Die niemanden komplett ausgrenzen und jeden so nehmen, wie er ist, aber auch von jedem verlangen, auf den anderen zu achten. Das klingt so einfach und naiv …. aber ich habe das Gefühl, dass es ganz schön schwer ist. Und ich glaube auch, dass wir uns dabei streiten würden.

Aber was, wenn wir uns streiten könnten, ohne dass jemand das Gefühl hat, er wäre nicht mehr gewollt? Was, wenn wir uns streiten, bis wir zusammen rausbekommen haben, wie alle damit leben können, was wie beschlossen haben? Dazu gehört natürlich, dass sich jeder sicher sein kann, nicht ausgeschlossen zu werden. Und es gehört dazu, seine Wünsche abzugleichen mit all den Wünschen der anderen …

Ich glaube, und das habe ich von euch als allererstes gelernt, für so ein Aushandeln miteinander braucht man als erstes einen Ort! Deshalb haben wir uns gesagt: Wenn es so einen Ort nicht immer und wirklich gibt, dann eröffnen wir ihn eben heute. Vielleicht nur für diesen Tag, vielleicht ja viel länger. Das liegt ja an den Menschen und wie viel dieser Ort ihnen bedeutet. Und in diesem Sinne eröffne ich hiermit ganz feierlich und froh das Café, das niemals gebaut wurde! Auf dass dies ein Ort sei, an dem wir zusammen reden, denken, trinken, essen und zuhören können! Ohne Parteiprogramm, ohne Vorurteile, ohne Bedingungen und ohne Angst. Für alle, die in diesem Viertel leben und lieben. Für Schönwalde! Ob das dann eine Heimat sein kann für alle, das weiß ich nicht … aber es ist ein Anfang für ein Miteinander. Und damit fängt Heimat an.
– Max

Liebe Schönwalderinnen und Schönwalder,

an einem der schöneren, sonnigeren Tage vor der Laube hatte ich eine Begegnung, die mich sehr beeindruckt hat. Die Person, mit der ich sprach, kam von weit her und hat seit langer Zeit ihre Heimat verlassen. Sie ist in einem völlig anderen System sozialisiert worden als dem unseren, und mit diesem „unser“ meine ich entweder die Bundesrepublik oder die Deutsche Demokratische Republik.

Es gibt mit Sicherheit viele zwingende Gründe, die einen Menschen dazu bringen, weit weg zu gehen – persönliche, private, soziale und politische – und sein Glück in der Fremde zu suchen.

Und egal, ob diese Gründe dramatischer Natur sind oder nicht, es hinterlässt bestimmt immer eine fundamentale Spur im Leben und Charakter eines Menschen, seine Existenz in der Ferne und im Unbekannten zu gründen.

Bei der Person, die ich traf, war das meiner Meinung nach eine gewisse Milde, ein vielleicht manchmal etwas melancholisch anmutendes Bedürfnis nach Schönheit und ein bestechender Humor, der von einem Bewusstsein für die Einfachheit bestimmter Dinge herrührt. So kam es mir zumindest vor.

Diese Person erzählt nun, dass sie nie so richtig Anschluss gefunden hat hier, seit nunmehr bald 15 Jahren, sie erzählt, dass es in Schönwalde zwar viel besser sei als in Süddeutschland, denn dort hätten die Leute zu viel Geld und seien immer nur vordergründig freundlich, aber das dauere nicht lange an. Anders sei das hier: Hier brauchten die Menschen ein bisschen, seien zu Beginn verschlossen, aber dann ginge das schon.

Dennoch: Es fehle am Gemeinsinn, die Leute seien zu sehr mit sich beschäftigt, immer stehe das Eigene im Vordergrund, was verwunderlich sei, denn schließlich habe es doch hier auch einmal ein kommunistisches System gegeben.

Ein Beispiel: Da gehe man an einem schönen Tag spazieren und sehe in einem Privatgarten einen Birnenbaum, der übervoll mit Früchten sei, und die Äste bögen sich schon, weil niemand ernte. Die Person, ein großer Liebhaber von Birnen, klingelt an der Tür und schlägt einen Handel vor: Sie wolle den Baum abernten, um die Früchte nicht verfaulen zu lassen, und bittet im Gegenzug um einen Eimer Birnen für sich. Die Antwort fällt vorhersehbar aus: Man wolle das nicht, es sei ja Privatgrundstück, man müsse das verstehen…

Die Person sagt mir, diese Anekdote sei für sie beispielhaft. Die Leute in Deutschland seien höflich, aber abweisend, man spüre immer eine Mauer, es gebe keine Offenheit für ein einfaches Gemeinschaftsgefühl. Darüber hinaus sei die deutsche Vorliebe für Äpfel unverständlich, fügt sie dann mit einem Schmunzeln hinzu.

Nach dem Gespräch bleibe ich etwas ratlos zurück. Mangelnder Gemeinschaftssinn. Das scheint auf der Hand zu liegen und ist bei den Besuchen in Greifswald-Schönwalde, aber auch sonst in letzter Zeit immer wieder formuliert worden. Künstler in Berlin sprechen von der Dringlichkeit eines mangelnden Gemeinschaftssinns, wenn sie ein Stadtteilprojekt außerhalb von Berlin machen. Ein türkischstämmiger Deutscher, den ich neulich im ICE getroffen habe, spricht über mangelnden Gemeinschaftssinn, wenn er davon spricht, wie Flüchtlinge Deutschland in den Ruin treiben. Ein russischer Arbeitsemigrant spricht von mangelndem Gemeinschaftssinn, wenn er Birnen pflücken und in Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung treten will und so weiter und so fort.

Ich frage mich: Warum sprechen so viele unter- schiedliche Leute in unterschiedlichen Zusammenhängen davon? Wie kann es sein, dass es immer den Anderen an Gemeinschaftssinn fehlt? Und wie sähe die intakte Gemeinschaft aus, die wir uns vorstellen? Wie können wir uns darüber verständigen und vermeiden, dass wir Äpfel mit Birnen verwechseln?
– Christoph